Ich habe schon mehrfach erlebt, dass Menschen Schwierigkeiten haben, mit Personen mit Behinderungen umzugehen. Da wird peinlich geschwiegen und angestrengt in eine andere Richtung gestarrt, oder überschwänglich Hilfe angeboten oder l.a.n.g.s.a.m. und d.e.u.t.l.i.c.h. gesprochen.
Ein Beispiel vom Busbahnhof: "Soll - Ich - Dir - Das - Schild - Vor-Le-Sen?" Antwort: "Ähem. Ich danke ihnen, aber: Ich sitze im Rollstuhl. Ich bin nicht doof!" Treffer - versenkt! Der Frager ist peinlich berührt und denkt sich "Ich wollte doch nur nett sein."
Mein blinder Kollege in der EDV reißt ebenfalls keine Putzlappen zurecht, sondern schreibt umfangreiche Programme, die er alle, Zeile für Zeile, im Kopf hat - eine Meisterleistung!
Mein Arbeitgeber ist so großzügig, bei Dienstreisen mit der Bahn Fahrkarten der ersten Klasse zu bezahlen. Was sich in der letzten Woche zutrug, nach einem langen Tag auf Dienstreise, in einer Regionalbahn, fand ich bemerkenswert. Ich gebe den Dialog leicht gekürzt wieder, da sich Aussagen mehrfach wiederholten:
Es war nach 20 Uhr, der Arbeitstag hatte für mich bereits um 7 Uhr begonnen. Ich hatte schon mehrere Stunden Zugfahrt hinter mir und wollte auch nicht mehr über die Arbeit nachdenken.
Feierabend.
Ein Sudoku in einer liegengelassenen Zeitung beschäftigte mich seit einiger Zeit (die Dinger können aber auch knifflig sein...), da öffnete sich die Abteiltür und eine resolute Dame, Mitte bis Ende fünfzig mit einem Mann ähnlichen Alters im Schlepptau platzte grußlos herein.
"Gerd, du setzt dich da hin!" rief sie ihrem Mann zu, der dies wortlos tat.
Nach ein paar Minuten kam eine freundliche Schaffnerin, die die Fahrscheine kontrollieren wollte. Als die Reihe an das neu zugestiegene Paar kam, bellte die Dame:
"Er hat einen Behindertenausweis!"
Die Schaffnerin musterte das Dokument, das der Herr ihr entgegen hielt und antwortete: "Das ist richtig, aber dieser gilt leider nur für die zweite Klasse. Ich muss Sie bitten ..."
"He! Er ist Schwerbehindert und da vorne ist alles voll!" Der Mann, der bereits Anstalten gemacht hatte, sich zu erheben, ließ sich wieder ganz nieder.
"Ich werde Ihnen gerne Platz machen. Es gibt spezielle Schwerbehindertenausweise für die erste Klasse, die..."
"Da vorne ist alles voll! Wir sitzen jetzt HIER! Er ist be-hin-dert!"
Es ging weiter hin und her, jedesmal mit "Er hat...", "Er ist...", "Aber er..." - nach gutem Zureden und freundlicher, aber bestimmter Unnachgiebigkeit der Schaffnerin wurden die Herrschaften hinauskomplimentiert - eine diplomatische Gratwanderung gegenüber den Fahrgästen.
"Los Gerd, dann geh'n wir eben nach da!" Gerd gehorchte und ging brav hinter seiner Frau zu den zwischenzeitlich von der Schaffnerin frei gemachten Plätzen.
Warum schreibe ich hier?
Es geht ganz sicher NICHT darum, dass sich zwei Personen in einem etwas volleren Zug in einem Abteil der ersten Klasse niederlassen wollten. Es ist weder meine Aufgabe noch mein Hobby, andere zu beaufsichtigen. Zumal zehn von zwölf Plätzen in diesem Abteil nicht besetzt waren.
Auch nicht darum, dass bei den belegten Plätzen
niemand auf die Idee kam, den beiden
Platz zu machen (der Herr war etwas unsicher auf den Beinen, wie jeder sehen konnte). Das kann heutzutage leider niemand mehr erwarten.
Es geht darum, dass die Dame jegliche Kommunikation für ihren Mann übernommen hat. Auch, als er direkt angesprochen wurde, hat sie an seiner Stelle geantwortet - und zwar nicht in Form von "Mein Mann" oder "Wir", sondern mit "Er".
Das war so ... unpersönlich, herablassend, bevormundend und distanziert, als wäre ihr Mann nicht dabei gewesen oder einfach dumm - und der Herr war weder phlegmatisch, noch wirkte er abwesend oder alt (mitte fünfzig, wie gesagt). Sie liess ihn einfach nicht zu Wort kommen. Die ganze Sache hat an die fünf Minuten gedauert und der Mann hat nicht ein einziges Wort sagen können/dürfen (wobei er mehrfach zum Sprechen angesetzt hat). Jedesmal, wenn sie das durch ihre Ausbrüche verhindert hat, keine Spur von genervtheit oder Ärger bei ihm - er hat nur (lautlos) geseufzt und zu Boden gestarrt. Reine Resignation. Traurig.
Meinetwegen hätte die Schaffnerin auch gerne eine Ausnahme machen können, es hätte ja niemandem geschadet. Wobei: Ist das jetzt auch eine wie oben beschriebene
Unsicherheit meinerseits? Dass ich über eine "Sonderbehandlung" nachdenke? Wenn ja: Mea Culpa!
Ich stehe dazu.
Mir tat der Mann wirklich leid - nicht wegen seiner Behinderung, sondern wegen seiner Isolation. Das war aus meiner Sicht keine Partnerschaft mehr. Schade.
Persönlich glaube ich, dass die Dame einfach keine Lust hatte, noch einmal den Platz zu wechseln und die Behinderung ihres Mannes
vorschob - darauf vertrauend, dass ihr Gegenüber die typische Unsicherheit an den Tag legen würde. Ihr Mann wirkte auf mich weder überanstrengt, noch hilfsbedürftig - nur ein wenig wackelig, sonst nichts.
Als die beiden weg waren, habe ich übrigens gemerkt, dass ich das Sudoku vollkommen versaubeutelt hatte - soviel zur "Generation Dumm".
Grüße von zu Hause
Nemesis